Christian Jacob

Ich habe nicht einhundert Leute gefragt, aber beim Familien-Duell würden sich bei der Frage nach immersiven Medien ganz sicher Film und Fernsehen mit den Videospielen um den ersten Platz streiten. Brettspiele? Wie soll Monopoly bitte immersiv sein! Wahrscheinlich wären esoterische Kochbücher noch vor unserem liebsten Hobby platziert. Ich gebe zu, zwar kenne ich auch absolut immersive Brettspielerlebnisse, aber so richtig bewusst geworden ist mir die Sogkraft erst durch meine beiden Kinder. Die gemachten Erfahrungen waren so überraschend intensiv, dass ich mich fragte, warum es für Brettspiele keine Warnhinweise wie die der USK gibt. Bei Videospielen sind die völlig selbstverständlich. Die Altersempfehlung auf der Brettspielschachtel verstehe ich meistens nur als Kriterium des Verstehens und nicht als Reife-Check.

Ursprünglich bezeichnet Immersion das physikalische Untertauchen von Objekten ins Wasser. Eine immersive Erfahrung ist also ähnlich einem Sprung ins kalte Wasser. Völlig umgeben von einer neuen Außenwelt, die unsere gesamte Aufmerksamkeit abverlangt. Sie lässt uns so die ursprüngliche Realität vergessen. Meine Kinder brauchten dafür keinen Pool im Wohnzimmer, sondern Captain Black im Schrank. Wenn dort das Schiff brannte, der Geisterpirat Befehle brüllte und Kinder direkt ansprach, weil nun der Kampf gegen fiese Seeräuber anstand, dann gab es für unsere Jungs nur einen Ausweg. Die Flucht zur Couch und das Kissen über den Kopf gezogen. Das nennt man mittendrin statt nur dabei. Albträume durch altersgerechte Kinderfilme von Disney, bei denen die Mutter stirbt? Eher weniger. Captain Black sicherte sich aber seinen Platz im heimischen Traumland. Keine Sorge, traumatisiert wurde niemand, der Ausflug wurde immer wieder gewünscht.

Mittendrin statt nur dabei

Die Kinder wurden älter, die Sogkraft von Brettspielen blieb. Im kooperativen Yggdrasil tanzte unser Sohn um den Tisch, als wollte er den brennenden Baum selbst löschen. Ich hatte schon Angst um mein Spielmaterial, denn die Gießkanne stand in Reichweite. Da saßen nicht Mama, Papa und der große Sohn, sondern Frigg, Freyr und Odin. Als Frigg im verzweifelten letzten Zug der Kampagne diese vorm Untergang retten wollte, stürmte der 9-Jährige Odin in sein Zimmer. Manifestierte Spannung in der Wohnung, so dick, man hätte sie in Scheiben auf dem Wochenmarkt verkaufen können. Kleiner Einwurf, Star Wars Episode I, ab 6 Jahren, schaute der gleiche Odin in für mich beängstigender Ruhe. Hallo, Darth Maul tritt da auf! Ich hatte damals im Kino Gänsehaut. Aber anscheinend ist ein Pappbaum aus einem Brettspielkarton aufregender als Star Wars.

Ein letztes aktuelles Beispiel lieferte Infinity Gauntlet: Ein Love Letter-Spiel. Nach der Geräuschkulisse zu urteilen, wurden keine Karten gespielt, sondern Spider-Man, Black Panther und Iron Man höchstpersönlich tanzten auf dem Tisch. Immer wieder überraschend, zu welche Soundeffekten Kinder in der Lage sind. Zeitgleich sahen die Finger der Kinder aus, als wären sie drei Stunden in der Wanne gewesen. Ist halt schon eine spannende Sache, wenn man den Thanos-Papa verprügelt. Da müssen die Finger irgendwie immer in den Mund wandern! Meine Nachbarn haben übrigens einen Tinnitus, dank des Jubelschreis meiner Kinder als Thanos in die Knie ging.

Kopfkino

Ich selber kann mich auch wunderbar in Brettspielen verlieren. Damit meine ich weniger die geistige Herausforderung, wenn man ein Heavy Euro bestmöglichst abschließen möchte, sondern eher Spiele wie Detective, Nemesis oder aktuell Tainted Grail. Die erlebte Geschichte steht hier im Vordergrund. Ich renne zwar nicht zur Couch, um mich in Kissen zu verstecken, aber es herrscht Tunnelblick, echte Gänsehaut und massives Kopfkino. In den stärksten Momenten ist das Erlebnis so intensiv, da kommen nur wenige Spielfilme mit. Typische Unaufmerksamkeitsblindheit, ganz nach dem Motto von Christopher Chabris und Daniel Simons und ihrem Affen auf dem Basketballplatz. Nach so einer abendlichen Partie muss ich erstmal zur Ruhe kommen, ansonsten spüre ich eine Erbse unter meiner Matratze. Das hat Tenet nicht geschafft. Quintessenz: Brettspiele können verdammt immersiv sein, eine ungeheure Spannung erzeugen und stehen mit Filmen, Büchern und Videospielen für mich in einer Reihe!

Christian Jacob, Brett & Pad

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