Im Jahre 2008 kam ein Film in die Kinos, der es mir damals schon sehr angetan hat und den ich auch heute noch immer gerne sehe: „8 Blickwinkel“ oder „Vantage Point“ auf Englisch. Für die, die noch nie etwas von dem Film gehört haben, ein ganz kurzer, sehr stark reduzierter Einblick: Bei einer großen Veranstaltung bricht Chaos aus. Wir erleben die Geschichte insgesamt acht mal, jedes mal aus dem Blickwinkel einer anderen Person. Somit wirkt der Film wie ein Puzzle, das erst mit dem letzten Teil ein komplettes Bild ergibt.
Letztens habe ich ganz zusammenhangslos wieder an diesen Film denken müssen (und daran, dass sich die Idee hervorragend als Anthologie-Serie eignen würde!) und habe mit dem Gedanken rumgespielt, das „Gimmick“ des Films auf etwas ganz anderes anzuwenden: Die SPIEL 2023! Wie sieht die Messe wohl aus den Blickwinkeln acht verschiedener Personen mit unterschiedlichen Spielevorlieben aus?
Blickwinkel 1: Pick Up & Deliver
Jahrelang waren die Hallenpläne in etwa gleich, jetzt wurde alles auf den Kopf gestellt! Bevor man sich orientierungslos durch die Messe bewegt, werden die neuen Pläne studiert und die optimalen Routen zu den favorisierten Ständen geplant. Erst natürlich zu den Ständen mit kleinem Kontingent, dann zu den Sonderangeboten, und die Testrunde des neuen Krachers am besten mitten auf dem Weg einbauen – aber zu lange darf sie nicht sein, sonst sind andere schneller. Zwischendurch immer wieder kleine Abstecher zu Lagerorten, um die aufgesammelten Spiele abzugeben und Platz im eigenen Inventar zu schaffen. Toilettenpausen gehören natürlich auch in die Planung! Effizienz wird hier besonders groß geschrieben.
Blickwinkel 2: Push Your Luck
Der kleine Verlag, den bisher eigentlich niemand großartig auf dem Schirm hatte, bringt eine vermeintliche Spieleperle heraus – allerdings nur in begrenzter Stückzahl. Da muss ich mit Sicherheit nicht hinsprinten, sondern werde auch Freitag oder Samstag noch das Spiel mitnehmen können. Oder? ODER? Mist, jetzt haben schon zwei Youtuber von dem Spiel gesprochen, und die Anzahl der Daumen auf BoardGameGeek steigt auch langsam aber sicher. Was, wenn das letzte Exemplar gerade über die Standtheke geht, während ich auf der Toilette bin? Gehe ich das Risiko ein, am Ende ohne die Perle nach Hause zu fahren – oder sichere ich mir mein Exemplar doch direkt zu Beginn?
Blickwinkel 3: Worker Placement
Man kennt es: Eine Partie auf der Messe ist vorbei, man verlässt den Platz am Tisch und … was nun? Irgendwie scheint alles in näherer Umgebung besetzt zu sein und die anderen Spiele, die man unbedingt testen möchte, sind in anderen Hallen. Jetzt heißt es: Die eigene Truppe gut aufteilen. Person A wartet hier auf den nächsten freien Tisch. Person B geht rüber in die andere Halle und schaut, ob dort was frei ist. Person C holt etwas zu Essen für die Gruppe, und ich selbst muss ohnehin schon seit 3 Spielen auf die Toilette, also stelle ich mich dort an. Im besten Fall haben wir fünf Minuten später eine Nachricht in der Messenger-Gruppe: „Hab was“.
Blickwinkel 4: Real Time
Eigentlich startet die Messe recht entspannt. Man findet hier und da einen Tisch, an dem man etwas spielt, quatscht, hat eine gute Zeit und … dann schaut man auf die Uhr. In drei Stunden schließt die Messe für heute. Drei Stunden – wir brauchen noch ca. 20 Minuten für dieses Spiel, danach dauert es bestimmt mindestens zehn Minuten, um etwas neues zu finden. Eigentlich wollten wir danach noch ein Spiel spielen, das laut Angabe der Verlags 30 Minuten pro Person dauert. Wir sind zu viert. Puh, mit Erklärung wird das ganz schön eng. Vielleicht überspringe ich einfach die Punktewertung und lasse mir mein Abschneiden einfach nachher mitteilen. Dann kann ich jetzt schonmal auf die Suche nach dem nächsten Tisch gehen und auf dem Weg noch ganz schnell aufs Klo huschen. Oder wir verschieben das eine Spiel auf einen anderen Tag und füllen den Rest des Tages mit kleineren Spielen … aber bis wir uns da für etwas entschieden haben, vergeht auch wieder wertvolle Zeit …
Blickwinkel 5: Resource Management
In den letzten Monaten vor der Messe habe ich mir immer einen Teil des Gehalts zurückgelegt. Durch akribische Recherche habe ich mir ausgerechnet, wie viel mich die Messe an Spielen kosten wird und – natürlich –, mir fehlen 9.876 Mark und 50 Pfennig (Wer die Referenz kennt ist übrigens offiziell alt!). Gut, nochmal an die Planung. Diese drei Spiele werden eh früher oder später bei einem deutschen Verlag erscheinen, kein Grund also, sie sofort zu kaufen. Runter von der Liste. Das Frühstück im Hotel kann ich bestimmt auch noch stornieren, ich esse eh nicht so viel morgens. Wenn ich jetzt bis zu Beginn der Messe nur noch Reis esse und auf einlagiges Toilettenpapier wechsle, könnte ich der Sache schon etwas näher kommen. Beim Trinkgeld am Abend können bestimmt andere aus meiner Gruppe einspringen. Jetzt darf nur kein Supersonderangebot daherkommen, denn dann muss ich spontan auf der Messe noch mein Budget umplanen.
Blickwinkel 6: Party
Das Regelheft sieht schon irgendwie lang aus … lasst uns doch einfach mal anfangen, das ergibt sich bestimmt alles während der Partie. Oh, schaut mal, hier auf meiner Karte ist der Kölner Dom! Hab ich euch eigentlich schon einmal die Geschichte davon erzählt, wie ich ganz oben auf dem Dom stand und plötzlich sehr dringend auf Toile … hm? Was sagst du? Ach ich bin dran? Ja ganz kurz, ich erzähl noch eben die Geschichte zuende. Wo war ich? Mist, Faden verloren. Na gut, ich spiele meine Karte hier hin. Das geht nicht? Sagt wer? Die Regeln? Können wir nicht einfach rüber zu Klask gehen? Da ist immer richtig gute Stimmung und man muss nicht dauernd irgenwelche Regeln neu lernen! Hauptsache ist doch eh, dass wir Spaß haben!
Blickwinkel 7: Puzzle
Es ist Sonntag und viele Verlage hauen nochmal ihre letzten Bestände günstig raus. Na gut, das hier nehm ich noch mit, das hier auch … und vollbepackt geht es erst einmal zur Gepäckstation, um alles einzuräumen. Die großen Boxen kommen unten rein, in die Zwischenräume dann das kleine Kartenspiel und dann, … oh, der Koffer ist schon voll! Na gut, noch einmal von vorne. Wenn ich das große Spiel schon aufmache, alles auspöppele und den Müll bei den Toiletten da drüben entsorge, kann ich bestimmt ein oder zwei kleine Spiele mit in die große Schachtel packen. Nach vielen Minuten ist es geschafft, der Koffer geht gerade noch so zu – und dann kommt ein Foto aufs Handy mit der Bildbeschreibung „Guck mal, wir haben dir spontan was für deine Tochter gekauft!“. Drei Spiele. Blick zum Koffer. Blick auf’s Handy. Gut, die Schachteln der neuen Erweiterungen brauche ich vermutlich sowieso nicht.
Blickwinkel 8: Cooperative
Gemeinsam schaffen wir alles. Es ist ganz egal, welche Top-Spiele oder Gurken wir zusammen spielen, Hauptsache, wir sind zusammen. Die Messe ist nicht mit dem Hallenschluss vorbei, danach geht es noch weiter. Wir verbringen den Abend zusammen und tauschen uns über die Spiele und Geschehnisse des Tages aus. Und wann wird geguckt, was wir am nächsten Tag in Angriff nehmen wollen. Hattest du nicht in Halle 3 was gesehen, was etwas für uns sein könnte? Gut, dann machen wir doch das als erstes und schauen dann weiter. Wir alle werden am Ende Teil eines einzigartigen Messe-Erlebnisses sein. Ganz egal, wie oft jemand die Regeln nicht verstanden hat, von Termin zu Termin rennen musste oder die Toiletten aufgesucht hat.
Mit Sicherheit lassen sich noch weitere Blickwinkel finden. Das überlasse ich jedoch Euch, denn … naja, Ihr könnt Euch mit Sicherheit denken, wohin ich jetzt ganz dringend muss 😉
– Dirk Roos, Ablagestapel