Markus Schwind

Letztens in der Schule war mal wieder ein Tag in meiner Lieblingsklasse BVJ meiner Berufsschule. Lieblingsklasse und BVJ. Für Kenner im Dschungel Schulsystem eine widersprüchliche Konstellation. Für alle anderen die kurze Erklärung, warum:

BVJ bedeutet Berufsvorbereitungsjahr – diese Schüler:innen sind noch schulpflichtig, haben es bisher aber nicht geschafft, einen Abschluss einer Schulart zu ergattern. Die Gründe dafür sind vielfältig und keiner meist isoliert zu betrachten. Förderschüler:innen, bildungsferne Familien, schwierige Lernbiografien, Drogen, Gewalt. Alles, was das Herz begehrt. Ich liebe diese Klassen, weil 90 % dieser Schüler witzig sind, das Herz am rechten Fleck tragen und einfach nur eine Chance brauchen.

Und am letzten Schultag vor den Ferien wollen sie eins: Netflix, Disney+ oder Amazon Prime schauen. Das Hirn ausschalten und einen guten Film anschalten. Wähle ich aus meinem Repertoire einen guten Film aus, z.B. BangBoomBang, wird das Handy oder ihr eigener Schlafmodus aktiviert. So viel zum Thema: „Können wir einen Film schauen?“

Also bin ich einen neuen Weg gegangen, der da heißt: Der Kartograph. Dank Dokumentenkamera und Beamer ein simples Unterfangen. Dank Block und Bleistift eines, was leicht in der Klasse umzusetzen ist.

Ein Brettspiel in der letzten Unterrichtsstunde? Anstatt Hirn aus und passives Konsumieren nun aktives Mitdenken und Spielen? Gemurre, Kritik, Verweigerung, Regelunverständnis waren zwanzig Minuten bei beharrlicher und eindeutiger Regelerklärung mein ständiger Wegbegleiter. Eine echte Herausforderung, einem kleinen Haufen pubertierenden Jugendlichen Regeln beizubringen. Zudem diese Regeln in einfacher Sprache und adressatengerecht zu formulieren.

Nachdem die Widerstände durch pädagogisches Geschick gebrochen waren: „Entweder wir spielen das Spiel jetzt oder ich lass euch 60 Minuten die Finger wund schreiben“, passierte im Raum J019 jedoch Erstaunliches: Alle hatten Spaß. Es funktionierte. Es kamen Nachfragen, ob die Punkte richtig berechnet wurden. Schüler:innen, die sonst wenig miteinander sprechen, halfen sich plötzlich untereinander. Die träge Masse, die sonst nur bespaßt werden möchte, zeigte plötzlich einen hohen Grad an Aktivierung und Motivation. Das Experiment gelang. Mehr noch. Nach den Ferien kam ein Schüler zu mir und fragte, wo man das Spiel kaufen könne. Er wollte es seiner Schwester zum Geburtstag schenken, damit sie gemeinsam spielen können. Der Schüler war fast 17. Zudem wird nicht mehr über Filme diskutiert. Sondern es ist ein Ritual geworden, besondere Anlässe im Unterricht mit einem Spiel zu feiern. So wurden Just One genauso wie Fiesta de los Muertos ein fester Bestandteil. Ein wenig Engagement und Kreativität des Spielleiters vorausgesetzt.

Brettspiele ermöglichen Jungen und Mädchen einen Zugang, der ihnen häufig von zu Hause verwehrt bleibt. Das bezieht sich meiner Beobachtung nach nicht nur auf die bildungsfernen und sozialschwachen Familien. Zu hoch ist die Hürde, sich durch eine Regelanleitung zu lesen. Handy, PC und Playstation haben im familiären Umfeld dadurch immer weniger Gegenspieler. Das merkt der Vereinssport, aber auch das Gesellschaftsspiel, dessen Name so unfassbar schön ist. Dabei bietet gerade das Brettspiel neben den Mechaniken, dem Spaß und dem Erlebnis so viel. Fähigkeiten, die in Deutsch oder Sozialkunde wichtig sind. Regeln lesen und verstehen. Abstraktion. Soziales Miteinander. Für mich immer ein großartiges Erlebnis, wenn ich Schülern diesen Zugang ermöglichen kann. Wenn durch Schule und Unterricht diese Option sichtbar wird.

Und eigentlich eine klare Aufforderung, Brettspiele als Kulturgut in den Stundenplan zu implementieren. Warum? Nun, gerade der schulische Kontext ermöglicht es perfekt, das Regeln lesen und übersetzen zu lernen. Und wenn diese Hürde fällt, dann wird der Zugang im Privaten einfacher. Denn sind wir mal ehrlich: Was ist die häufigste Antwort auf die Frage, warum nicht gespielt wird? Das Lernen des Spiels mit den Spielregeln. Und warum sollte das nicht in den Unterricht? Schließlich malen wir auch Bilder, besprechen Musik und treiben Sport. Spielen gehört in die Schule, denn nirgendwo lernt man mehr als beim Spielen. Und wer sagt, dass Schule nicht auch Lehrer:innen und Schüler:innen Spaß machen darf? Ich habe beim Kartographen mitgespielt und natürlich gewonnen. Man darf sie dann tatsächlich nicht zu sehr verwöhnen.

– Markus Schwindt, www.brettundpad.de