Wer kennt es nicht? Ihr habt eine Spielrunde und seid der einzige, der das Spiel kennt. Die Mitspielenden wollen alle genau dieses Spiel jetzt kennenlernen. Bei einem einfachen Karten- oder Würfelspiel kein Problem. Erklären, Beispieldurchgang, fertig! Schon kann jeder mitspielen. Der Kampf um Sieg und/oder Demütigung kann schnell beginnen.
Doch wie läuft das bei einem komplexen Spiel? Einem Kenner- oder Expertenspiel mit umfangreichen Regeln und fein verzweigten Mechanismen? Da wird es schwierig, denn zwei Stunden Regeln erklären geht nicht. Da schlafen meine Gäste doch ein oder bekommen Migräne. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als eine Art „learning by doing“-Partie* zu spielen, getreu dem Motto „lass uns einfach mal anfangen.“
Um den Einstieg nach einem groben Überblick einfach zu gestalten, bin ich natürlich Startspieler, mache meinen ersten Zug und kommentiere dabei jeden Handgriff, jeden Gedankengang und jede Alternative, die ich gehabt hätte, wenn … Dann folgt Spieler*in Nummer Zwei. Natürlich völlig ahnungslos und überfordert, versucht er/sie einen Zug durchzuführen. Ich mische mich ein, weise auf Regeldetails hin, korrigiere und gebe Empfehlungen. Meine Mitspieler*in sagt „OK, lass ich so“. Spieler*in Nummer Drei und Vier, same procedure.
Sieg für mich – mit 77:0!
Nach der ersten Runde hab ich dann schon 28 Zugmöglichkeiten gezeigt und erläutert. 47 Fragen direkt nach „Darf ich …?“ mit „NEIN!“ abgeschmettert, zwei Fragen mit „Ja“ bestätigt. Dazu noch effektiv vier Spielzüge, vorwiegend nach meinen Wünschen, durchgeführt. Ach ja, und elf Mal einen Zug rückgängig gemacht.
So geht es Runde um Runde bis hin zur Endwertung. Ergebnis: 24:22:19:12 – ich habe 12! Meine Gäste sind zufrieden, haben ein neues Spiel gelernt und nicht verloren. Meine Stimme ist weg und ich habe das Gefühl, ein Vierer-Solo-Spiel mit 77:0 gewonnen zu haben. Der Spruch „dafür dass du das Spiel kennst, hast du aber wenig Punkte!“ holt mich direkt aus meinen Träumen.
Was habe ich getan? War mein Verhalten unfair und manipulativ? Wenn ich als Erklärer die Züge und Taktik für die anderen Mitspielenden vorgebe, gewinne ich ja quasi mehrfach. Ich habe nicht nur das Wissen über die Regeln und den Ablauf des Spiels, sondern auch die Kontrolle über die Züge und Taktik der anderen Mitspielenden. Sind meine Gäste sozusagen meine Marionetten, die ich nach Belieben lenken kann, um meine Ziele zu verfolgen? Oder habe ich ein positives Erlebnis beschert, und alle sind zufrieden und begeistert vom Spiel?
Es ist wichtig, dass beim Spielen von Brettspielen jede*r Spielende die Möglichkeit hat, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und seine eigene Strategie zu entwickeln. Doch in einer Kennenlern- oder Erstpartie geht das bei komplexen Spielen einfach nicht gut. Hier sind gewisse Hilfestellungen einfach existenziell. Es gilt also, den goldenen Mittelweg zu finden, um ein gutes Spielerlebnis zu vermitteln und Begeisterung für das Spiel zu generieren.
– Oliver Sack, www.spielevater.de
* in Fachkreisen auch als „Niemann-Partie“ bekannt (Anm. von Daniel)